Cover
Titel
Nearly the New World. The British West Indies and the Flight from Nazism, 1933–1945


Autor(en)
Newman, Joanna
Erschienen
New York 2019: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XII, 307 S.
Preis
$ 149.00; £ 110.00; € 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Muth, Center for Inter-American Studies, Universität Graz

„The trauma of exile […] is inextinguishable“, erklärte der 1940 nach Jamaika geflüchtete Arzt Rudolf Aub kurz vor seinem Tod im Jahr 1989 (S. 271). Wie ihm ging (und geht) es den unzähligen, im Kontext des Zweiten Weltkriegs geflüchteten Europäer/innen. Während sich die bisherige Forschung vornehmlich auf ihre Flucht nach Palästina, Shanghai und in bestimmte Länder Kontinentalamerikas konzentrierte, wurde der Karibik verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt. Dies betrifft speziell jene Gebiete, die sich noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in britischem, französischem oder niederländischem Kolonialbesitz befanden (oder gegenwärtig befinden). Da Großbritannien, Frankreich und die Niederlande also über einen ausgedehnten Kolonialbesitz mit ausreichend Platz verfügten und es dort gleichzeitig an Fachkräften mangelte, stellte sich schon seit Längerem die Frage, warum keine größere Zahl an Flüchtlingen aufgenommen wurde. Nach der Studie von Eric Jennings über die französischen Karibikkolonien1 schließt nun auch Joanna Newman (Association of Commonwealth Universities) mit der ersten systematischen Darstellung der Rolle der britischen Karibikkolonien als Zufluchtsort zwischen 1933 und 1945 eine Leerstelle in der Forschung.

Das rezensierte Werk basiert auf Newmans Dissertation, die bereits 1998 an der University of Southampton angenommen wurde. Für die Veröffentlichung wurde die Studie überarbeitet und dem aktuellen Stand der Forschung angepasst. Sie stützt sich auf Feldforschungen in Barbados, Trinidad und Jamaika sowie eine umfangreiche Quellenauswertung (Zeitzeugeninterviews, Dokumente der verschiedenen mit der Flucht befassten britischen Behörden und der wichtigsten jüdischen Hilfsorganisationen, zeitgenössische Liedertexte, Zeitungsartikel, Leserbriefe und Flüchtlingsmemoiren). Newman selbst entstammt einer Familie, die 1937 aus dem Deutschen Reich nach Großbritannien geflohen ist (S. 7).

Die Studie ist in drei Hauptteile und fünf Kapitel gegliedert. Kapitel 1 bis 3 behandeln die Zeit vor 1933, 1933 bis 1938 und 1938 bis 1939. Kapitel 4 befasst sich mit der Geschichte von Flüchtlingen, die an Bord von Schiffen strandeten, und Kapitel 5 untersucht die Flüchtlingsinternierung in Trinidad und Jamaika. Newman geht dabei nicht nur auf die eingangs gestellten Fragen nach der tatsächlichen Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge, den Auswirkungen auf die lokale Ökonomie, den Reaktionen der lokalen Bevölkerung und sämtlichen Aspekten der britischen Einwanderungspolitik ein. Sie blickt auch auf die Strukturen des britischen Kolonialwesens und der Einwanderungsbehörden, auf die Einwanderungsbestimmungen und das -procedere. Ausführlich schildert sie das von Isolation, Konflikten, Depressionen und Suiziden geprägte Leben als enemy aliens in den Internierungslagern, wo Flüchtlinge mitunter zusammen mit Nationalsozialisten interniert waren. Es ist Newman bravourös gelungen, die Perspektiven der britischen Behörden in London und den Kolonien, der jüdischen Hilfsorganisationen, der lokalen karibischen Bevölkerung und der jüdischen Flüchtlinge zu beschreiben, wenngleich Letztere etwas zu kurz geraten ist. Dafür finden sich im Epilog die Schicksale ausgewählter Flüchtlingsfamilien nach ihrer Freilassung aus den Internierungslagern. Die sich ergänzenden Perspektiven einer „Geschichte von unten“ und einer Elitengeschichtsschreibung werden überdies durch regionale, hemisphärische und globale Vergleiche komplettiert.

Auch wenn die britischen Karibikkolonien zwischen 1933 und 1945 nicht zu den Hauptfluchtzielen zählten, hätte es definitiv genügend Möglichkeiten und Kapazitäten zur Aufnahme von Geflüchteten gegeben, so Newmans Hauptthese (S. 69, 261). Als Beispiel führt sie die Errichtung des Camps Gibraltar in Jamaika an. 9.000 Gibraltarer/innen sollten dort vor dem Krieg in Sicherheit gebracht werden. Es wurden jedoch weniger als 2.000 evakuiert. Die Wohnbarracken blieben somit größtenteils leer und wurden erst von 1942 bis 1944 genutzt, aber – wie sich 1943 auf der Bermuda-Konferenz herausstellte – nur um kleine Flüchtlingsgruppen unterzubringen, die auf der Iberischen Halbinsel gestrandet waren.

Die Gründe, warum Großbritannien keine größere Anzahl an Flüchtlingen (Newman schätzt ihre Zahl auf rund 5.000, S. 4) in seine Kolonien ließ, waren äußerst komplex. Generell lässt sich resümieren, dass die britische Einwanderungspolitik ab 1933 lediglich nach temporären Lösungen der Zuflucht in seinem Empire suchte, manchmal auch nur nach Scheinlösungen. Besonders hervorzuheben ist die britische Abschreckungspolitik, die auf einer Entmutigungstaktik und dem Mythos einer angeblichen Überbevölkerung der Karibikkolonien sowie der damit verbundenen Aussichtslosigkeit auf Arbeit beruhte. Auch das Colonial Office versuchte als selbsternannter „Beschützer der Kolonien“, die Aufnahme zu begrenzen. Dies lässt sich mit Londons Abhängigkeit von trinidadischem Erdöl und der Zurückdrängung von Konkurrenten (hauptsächlich den USA, Venezuela und Argentinien) zwecks Wahrung der eigenen kolonialen Interessen in der Karibik erklären. Des Weiteren waren Fehleinschätzungen und ungeklärte Finanzierungsfragen ebenso verantwortlich wie unklare Kompetenzverteilungen und Uneinigkeit innerhalb der involvierten Behörden. Zudem dürften xenophobe beziehungsweise antisemitische Haltungen relevant gewesen sein (vgl. S. 68, 77, 105, 129).

Newman zufolge begann die Geschichte der graduellen Einwanderungsbeschränkungen bereits in den 1920er-Jahren, als das Colonial Office die Flucht aus Osteuropa in britische Karibikkolonien infolge des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise zu observieren begann. Richtete sich die Einwanderungspolitik anfänglich gegen Mittellose, so versuchte man zunächst mittels Kautionen und Visa sowie später mittels Erweiterung der Machtbefugnisse und der Einführung von Restriktionen eine selektiv-diskriminierende Einwanderungspolitik zu betreiben, um schließlich 1939 Einreisestopps zu verhängen. Die Angst vor Immigranten wurde mit plakativen Termini („hungry multitudes“, „invasion“, S. 39) geschürt, London selbst befürchtete Spionage und die Entstehung einer „Fünften Kolonne“ in Südamerika.

Daneben müssen bestimmte Entwicklungen und Reaktionen in den Karibikkolonien als Ursachen der geringen Flüchtlingsaufnahme herangezogen werden. Allgemein befand sich die Karibik zu jener Zeit zwischen Weltwirtschaftskrise und Umbruch, was Forderungen nach Dekolonisation und soziopolitischen Entwicklungen (politische Partizipation, Gewerkschaften, Beseitigung des Analphabetismus, Zugang zu höherer Bildung etc.) hervorrief. Diese Unzufriedenheit, die sich in wiederholten Unruhen und Streiks ausdrückte, ließen, so Newman, London keinen großen Spielraum, wollte man die Kolonien nicht mit der Aufnahme von Flüchtlingen vergrämen. Sie wurden als Hauptfaktor für den Anstieg der Arbeitslosigkeit betrachtet und die Lokalregierungen und -bevölkerung befürchteten ein von ihnen ausgehendes Gesundheitsrisiko. Der jamaikanische Panafrikanist und Gründer der Universal Negro Improvement Association Marcus Garvey sprach 1938 gar von einer Gefährdung der „nationalen und zukünftigen Existenz“ (S. 129). Ob xenophobe, rassistische und antijüdische Ressentiments in den Kolonien aus der Sklaverei heraus entstanden sind und/oder von außen beeinflusst wurden, bleibt ungeklärt. Sowohl Ressentiments als auch Empathie beruhten dabei auf Gegenseitigkeit (S. 126).

Kritisiert werden muss Newmans Beschränkung auf jüdische Flüchtlinge, die sich im Buchtitel hätte widerspiegeln müssen. In die Karibik emigrierten auch Personen, die aus politischen oder anderen (rassistischen) Gründen verfolgt wurden. Zudem konzentriert sich das Werk fast ausschließlich auf Trinidad und in geringerem Ausmaß auf Jamaika. Hier hätte man sich einerseits mehr Details zu den übrigen Karibikkolonien gewünscht. Andererseits wären bei einer derartigen Fokussierung auf Trinidad Interviews mit dem Aufsichtspersonal der Internierungslager wie in Anbetracht der multiethnischen Zusammensetzung der trinidadischen Bevölkerung ebenso mit Angehörigen anderer Migrantengruppen (speziell Portugiesen, Syrer und Inder) eine unverzichtbare Quelle gewesen. Obwohl Newman zahlreiche Beispiele von Flüchtlingen anführt, die nicht über die Karibik in die USA flüchteten oder flüchten wollten, bleibt sie letztendlich eine Anhängerin der Theorie, dass die meisten ohnehin nur in die USA wollten (S. 41f., 83). Daneben wird außer Acht gelassen, dass viele Flüchtlinge Kommunisten waren und schon allein deswegen die USA als Fluchtziel nicht unbedingt in Betracht kamen. Mit einem gewissenhaften Lektorat hätten einige Fehler (zum Beispiel „14,000 Mayas […] in British Guiana“ – S. 50, Anm. 15) vermieden werden können. Schmerzlich vermisst man ferner eine Karte der „(British) West Indies“ sowie ein Abkürzungsverzeichnis angesichts der zahlreichen behandelten jüdischen Hilfsorganisationen.

Abgesehen von den Kritikpunkten handelt es sich bei dem Werk um eine äußerst lesenswerte Studie, klar strukturiert und mit persönlichem Bildmaterial bereichert. Das Ziel einer connected history, in der die Geschichten der Karibik, der Flüchtlinge und des Holocausts miteinander verbunden werden, erreicht Newman zweifelsfrei. Es ist bedauerlich, dass die Dissertation nicht schon früher veröffentlicht wurde.

Anmerkung:
1 Eric Jennings, Escape from Vichy. The Refugee Exodus to the French Caribbean, Cambridge, Mass. 2018.

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